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Die vielen Geschichten von Pedro

"Du bist nie wirklich verloren, solange du eine gute Geschichte hast, und jemanden, dem du sie erzählen kannst",  - sagt der Erzähler im wunderschönen Monolog Novecento, von Alessandro Baricco. Pedro Mazzarini hat Hunderte von Geschichten. Wenn er aus seinem Leben erzählt, hört man gebannt und gerührt zu und am Ende glaubt man wieder an das Gute im Menschen, an Schicksal und an Neuanfängen.

Ich kenne Pedro, einen gebürtigen Argentinier, seit 1999, als er kurz nach seinem Umzug nach Deutschland bei unserer italienischen Laienschauspielgruppe teatro in cerca die Licht- und Tontechnik übernahm. Heute, nach über 20 Jahren, arbeiten wir zusammen an der Vorbereitung unseres diesjährigen Theaterstücks, das in einem kleinen Theater in Würzburg aufgeführt wird. Außer bei der Technik ist er dieses Jahr auch als "der Alte" auf der Bühne. Ein paar Wochen vor den Aufführungen treffen wir uns jedes Jahr mit der ganzen Truppe für ein Probenwochenende, Freitag bis Sonntag. So war ich Anfang dieses Jahres mit Pedro und der Theatergruppe in Bamberg. Da unsere Rollen auf der Bühne recht klein sind, blieb uns viel Zeit zum Reden, Spazierengehen, zusammen Lachen.  Wenn man Pedros Geschichten alphabetisch ordnen würde, bin ich mir sicher, dass die Buchstaben des Alphabets nicht ausreichen würden. Für diesen Blog einige wenige Geschichten auszuwählen wäre zu schwierig. Daher habe ich Pedro ein Spiel vorgeschlagen: Wir ziehen zufällig drei

Buchstaben, assoziieren sie jeweils mit einem Wort und zu dem Wort erzählt er eine Geschichte aus seinem Leben! Pedro ist einverstanden und wir nutzen die spielfreien Pausen im Theater für dieses Spiel.

Der erste Buchstabe muss ein A wie Argentinien sein, das Land wo Pedro auf die Welt kam. Der letzte muss ein W wie Würzburg sein, wo er seit 1999 seine neue Heimat gefunden und ein neues Leben aufgebaut hat.

Also, A wie Argentinien: Pedro wird 1966 in Mendoza geboren. Nach dem Sturz der Regierung Perón durch das Militär 1976, wird das Leben im diktatorischen Regime schwierig und Pedro zieht mit seinen Eltern und Geschwistern nach Venezuela. Mit 24 zieht es ihm nach Argentinien zurück, mit seiner damaligen Frau und seinem vierjährigen Kind. Er arbeitet eine zeitlang für einen Fernsehsender, aber irgendwann wird er nicht mehr bezahlt und kann nur schwer für seine junge Familie sorgen...

Und nun ziehen wir der nächste Buchstabe, ein F wie Florida: Nach 4 Jahren in Argentinien sucht Pedro sein Glück in den USA mit der Absicht, sobald wie möglich Frau und Kind mit nach Amerika zu holen. Aber es erweist sich als außergewöhnlich schwierig, als legaler Einwanderer in Florida zu leben. Kurz vor Ablauf seines Visums kehrt er in sein Heimatland Argentinien zurück. Er hat aber keine Arbeit und es ist unmöglich, eine zu finden. Er wohnt mit seiner Familie in einem kleinen Zimmer, das noch für weitere zwei Wochen bezahlt ist; wie es danach weitergehen soll, weiß Pedro nicht. Verzweifelt läuft er durch die Straßen von Mendoza und sieht eine Frau, die Straße fegt. Er beschließt, ihr sein Leid zu klagen und zu erzählen, dass er bald kein Haus mehr für seine Frau und sein Kind haben

wird. Die Alte Frau lädt ihn daraufhin in ihr Haus und holt ihren Mann. Es stellt sich heraus, dass die Hälfte vom Haus leer steht und der Mann bietet Pedro an, mit seiner Familie dorthin zu ziehen, obwohl er dafür erst einmal gar nichts zahlen kann. Dieses Haus wird für ein Jahr ihre Bleibe, und hier kommt unser dritter Buchstabe ins Spiel: wie Brot.

Pedro fängt an, für sich und die Familie selbst Brot zu backen. Wenn er bei Freunden zu Besuch ist, bringt er es mit und seine Freunde sagen, sie möchten das Brot kaufen. Am Anfang sind es drei kg pro Tag, dann werden die Anfragen immer mehr und Pedro kauft einen neuen Ofen. Er muss immer genug backen, um neues Mehl zu kaufen und den Ofen zu finanzieren. Das Brot tauscht er mit Obst ein, das zu einer Zutat für seine Tartes wird. Auch Pizzateig wird dann Teil des Sortiments. Mit seiner Aktivität kann der fleißige Argentinier, der nachts kaum noch schläft vor lauter Backen, alle zwei Monate einen Monat Miete bezahlen und so in dem Haus bleiben. Dank seinem Erfindergeist und seinem Mut überbrückt Pedro eine schwierige Zeit und meistert ein weiteres Kapitel seines Lebens in Argentinien.

Mit dem nächsten Buchstaben, L, kommen wir mit Pedro nach Deutschland. Dazwischen war ganz viel Leben, viele Umzüge und andere Länder, sowie unterschiedliche Jobs im Theater; aber diese Geschichten überspringen wir erst einmal und bleiben bei unserem Spiel.  Mit dem Buchstaben L assoziiert er spontan und mit einem Lächeln den Namen seiner Tochter Laura, die in Würzburg geboren ist.

Als sein Sohn Gabriel 9 Jahre alt ist, bricht Pedro aus Caracas aus, um sein Glück in Europa zu finden. Er findet in Würzburg Arbeit in einer italienischen Eisdiele (wo er übrigens auch sehr gut Italienisch gelernt hat) und arbeitet monatelang ohne einen Tag Pause. Der Plan ist, genug Geld zu verdienen, um seine Frau und seinen Sohn nach Deutschland zu holen, aber das Leben entscheidet es anders. Pedro lernt seine jetzige Frau Rosi kennen und die beiden verlieben sich. Nach vier Monaten ist Rosi schwanger, gleichzeitig beschließt Pedros Frau Tamara nicht nach Deutschland zu kommen und zieht kurze Zeit später mit ihrem Sohn und einem anderen Mann in die USA. 2001 kommt Laura in Würzburg auf die Welt und ein paar Jahre später ihr Bruder André. Seitdem lebt Pedro mit Rosi im Würzburger Raum, mit Ausnahme eines Aufenthaltes in Holland 2020 während der Pandemie. Er blickt auf sein bewegtes Leben zurück und seine Augen leuchten, wenn er seine vielen Geschichten erzählt. Beruflich ist er jetzt im technischen Bereich in einem Kunststoffunternehmen tätig, die Liebe für das Theater bleibt aber und er begleitet unsere kleine Theatergruppe sehr professionell mit Licht- und Tontechnik. Und in der Rolle des alten Mannes war er dieses Jahr auf der Bühne einfach köstlich :-) !

 

Zum Schluss meiner Interviews füge ich immer gerne 2 Fragen aus dem genialen Buch "999 Fragen an mich" ein. So habe ich auch Pedro darum gebeten, mir 2 Zahlen zwischen 1 und 999 zu nennen. Das ist dabei herausgekommen:

 

Frage 192:

ICH: "Wie oft schaust du am Tag im Durchschnitt auf die Uhr?" 

PEDRO: "Zwischen 20 und 30 Mal, glaube ich"

Frage 704:

ICH: "Entscheide dich: Autobahn oder Landstraße?"

PEDRO: "Landstraße"

 

Na ja, diese Fragen sind im Vergleich mit Pedros Lebensgeschichten ziemlich unspektakulär. Und seine Erzählungen würden noch für ein Buch reichen. Es wird also eventuell eine Fortsetzung hier im Blog geben. Spätestens in der nächsten Theatersaison, wenn ich wieder Gelegenheit haben werde, zwischen den Proben mit Pedro zusammenzusitzen und bei einem Bier gemütlich zu plaudern.

 

999 Fragen an mich, riva Verlag, 2021 (6. Auflage)

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