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Die Angst den Zug zu verpassen

Wenn ich etwas wirklich gut kann, ist das schlafen. Und ich bin dankbar für diese 7-8 Stunden, in denen ich wie auf einen "Reset-Knopf" drücke und Platz für den nächsten Tag mache. Während sich der Körper regeneriert, kommt das Unterbewusstsein zu Wort und spricht durch Symbole. Ich bin fasziniert von Träumen und von der Fülle an Bedeutung, die in ihren Metaphern steckt. Manchmal ist nach dem Aufwachen ein Traum noch besonders präsent, vielleicht nicht so, dass ich darüber erzählen könnte, aber als Gefühl oder als diffuses Bild. Dann nehme ich mir gerne ein bisschen Zeit nachzuspüren, was dieser Traum mit mir und meinem Leben zu tun hat. Durch die Teilnahme an einigen Social Dreaming Matrix* Online-Sessions vom junghianischen Psychotherapeuten Maurizio Gasseau bin ich in den letzten zwei Jahren auch auf die kollektiven und sozialen Aspekte des Träumens gekommen, die mindestens genauso faszinierend zu erkunden sind wie das eigene Unterbewusste. Wir träumen nicht nur von uns und unserer Lebenssituation, sondern auch von universellen, kollektiven Themen, die unsere Gesellschaft beschäftigen.

 

Ich stieg kurz aus, und mein Zug fuhr weiter...

Heute nacht hatte ich einer dieser Träume, deren Eindrücke so stark waren, dass ich davon aufwachte. Auch nach dem Aufstehen waren die Bilder meines Traums und die damit verbundenen Gefühle sehr klar und ließen mich auch beim Frühstück nicht los. Daher sitze ich hier, um 8 Uhr morgens, schreibe in meinem Blog und verschiebe die Arbeit eines Montagmorgens auf später.

In meinem Traum saß ich in einem Zug zusammen mit einigen Mitgliedern meiner Familie (ich denke, es waren meine Eltern und meine Kinder). An einem Bahnhof stieg ich aus, um etwas zu trinken zu holen, während mein Zug 20 Minuten Aufenthalt hatte. Als ich mich vom Bahnhof entfernte, dachte ich, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen würde, bevor der Zug weiterfährt, und kehrte um. Da kam mir eine Bekannte mit ihren zwei Kindern entgegen und deutete an, ich solle mich schicken, ansonsten würde ich den Zug verpassen. Ich rannte zurück, kam aber nur sehr langsam vorwärts. Ich lief der Bekannten hinterher zum Gleis, aber als ich vor dem Zug stand merkte ich, dass es nicht mein Zug ist. Von der Bekannten und ihren Kindern war keine Spur mehr. Ich wollte in den Zug nach Hamburg Altona steigen, konnte aber die Information an den Gleisen nicht lesen. Ich fragte Menschen, die im Zug waren während die Türen sich schlossen, aber sie schüttelten mit dem Kopf. Es war nicht mein Zug. Der Bahnhof war der in dem Ort, wo ich als Jugendliche in die Schule ging. Auf dem Gleis, wo ich in Wirklichkeit immer ankam, war im Traum ein Zug und ich dachte, das müsse mein Zug sein. Ich konnte auch das Ziel "Altona" lesen, musste aber durch Menschenmengen zur anderen Seite des Bahnhofs. Die An- und Abfahrtspläne konnte ich nicht lesen, da sie alle im Dunklen waren. Es war schon viel Zeit vergangen und mein Zug müsste schon längst weitergefahren sein. Ich war völlig orientierungslos, versuchte den Schaffnern am Gleis ein Zeichen zu geben, dass sie auf mich warten sollten, aber keiner schien zu reagieren. Ich hatte nur meine Aktentasche mit Büchern und Unterrichtsmaterial dabei. Mein Gepäck, mein Handy und Geldbeutel waren im Zug geblieben. Ich wusste nicht, wie ich meine Familie kontaktierten konnte und ihnen sagen, ich würde den späteren Zug nach Hamburg nehmen. Gleichzeitig machte ich mir Gedanken, dass mein Koffer und meine Handtasche verlassen in einem Zug waren und ich überlegte, ob und wie ich sie am Bahnhof in Hamburg wieder bekommen würde. Oder sollte ich schnell ein Taxi nehmen und mich zur nächsten Haltestelle meines Zugs bringen lassen? Aber ein ICE hat wohl kaum Zwischenstopps... 

 

Wir suchen alle nach dem richtigen Zug

Ich wachte nach dem Traum erschöpft und kurzatmig auf und mit dem Gefühl nicht weiter zu wissen.

Träume, die mit Bahnhöfe und Flughäfen zu tun haben, kommen öfters vor und es ist nicht schwer, sie mit den persönlichen Situationen auf unserer Lebensreise in Verbindung zu bringen. Die Reise ist eine Metapher für das Leben, und auch im Leben stehen wir manchmal da und wissen nicht weiter.

Die Gedanken über meinen Traum haben mich aber darüber hinaus zu einem Bild der aktuellen Weltlage geführt. Zu Stichworten wie Klimawandel, Krieg, Überforderung, Verwirrung, Hilflosigkeit. Am Bahnhof und im Zug waren unterschiedliche Generationen (meine Eltern und meine Kinder), geliebte Menschen und entfernte Bekannte. Alle damit beschäftigt, einen Zug zu nehmen oder im eigenen Zug zu bleiben, um ihn nicht zu verpassen. Auch die Menschen, die im Zug waren, standen meist an der Tür und schienen auch nicht zurecht zu wissen, wohin die Reise führe. "Der Zug ist abgefahren", erklang in meinem Kopf wie ein Leitmotiv.

Sind wir nicht alle metaphorisch in einem Bahnhof mit vielen Zügen, unter denen wir den hoffentlich richtigen erwischen sollten? Aber woher wissen wir, welcher der richtige ist und vor allem, auf welchem Gleis er ist? Wir suchen nach der Antwort, nach dem richtigen Gleis, diese Information ist aber nirgendwo eindeutig zu finden. Und auch wenn wir in einen Zug einsteigen, sind wir trotzdem unsicher, wohin er uns bringen wird. Diese Rastlosigkeit, die Unsicherheit, die Orientierungslosigkeit und das Gefühl, es nicht rechtzeitig zu schaffen sind kollektive Themen, die unsere Zeiten prägen.

Ist vielleicht der Zug des Klimawandels schon abgefahren? In welche Richtung sollte die Weltpolitik gehen? Welcher Zug führt zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine? Und was passiert, wenn wir kurz aus dem Zug aussteigen, um Wasser zu holen? Fährt der Zug ohne uns weiter und lässt uns verloren zurück? Und werden wir einen anderen Zug finden, der uns zum Ziel führt? Was ist mit unseren Reisegefährten, werden sie auf uns warten? Können wir sie noch erreichen? Fährt jeder Mensch für sich oder kann man sich jemandem anschließen?

 

Es sind viele die Fragen, auf die der Traum von heute Nacht meinen Blick gelenkt hat. Vielleicht setze ich mich einfach kurz hin, auf eine Bank in diesem Bahnhof, der mir aus meiner Kindheit und Jugend vertraut ist, und hole Luft. Statt einem Zug hinterherzurennen beobachte ich, wer ein- und aussteigt. Bis ich wieder weiß, in welchen Zug ich als nächstes einsteigen möchte.

 

Träumt ihr auch oft von Reisen, Zügen und Bahnhöfen? Oder welche sind die Symbole, die in euren Träumen immer wieder auftauchen? Was hat das mit euch oder mit uns allen zu tun? Vielleicht inspiriert euch dieser Blogartikel, euren Träumen nachzugehen und ihre Bedeutung zu entdecken.

Träumt schön! Und bis bald.

 

 

* Social Dreaming (SD) ist eine Gruppenmethode, um einen Zugang zu den sozialen und historischen Aspekten des Unbewussten zu verschaffen. Das SD wurde seit 1982 von dem britischen Psychoanalysten Gordon Lawrence von der Tavistockklinik (London) entwickelt. 

 

LITERATUR:

Lawrence, Dr. W. Gordon, Introduction to Social Dreaming, 2018, New York (erste Ausgabe 2005)

 

 

 

 

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